Ich ertappe mich

 

Ich ertappe mich
beim Zurückhassen
gute Miene machen
Deckung suchen
Stärke zeigen
Totstellen.

 

Hätte gern eine Waffe
weine still und
tränenlos
sinnbefreit
1300-mal am Tag
immer nur eine Sekunde
Schnapptrauer.

 

Klebe am Sessel, Wasserglas, Fernseher
hab es immer gewusst
und bleibe fassungslos
überrascht.

 

Will die Bilder nicht sehen
und kann doch nicht wegschauen
will es nicht wissen
kann es mir nicht vorstellen
und stelle es mir immer wieder vor
gehe beim Einkaufen in Deckung
stelle mir vor ich stelle mich tot
unter einem Haufen blutiger Festivalleichen.

 

Bin entsetzt
dass im Diskurs der Gegenwärtigkeit
die Endlösung der Nazis
im Vergleich zu heute
besser abschneidet.

 

Bin verstört
wie kurz die Halbwertzeit des Mitgefühls ist
wie leer die Hülsen der Sympathiebekundungen
wie hasserfüllt die Sympathisanten
wie gut doch Judenstern und Hakenkreuz
haben überwintern können.

 

Habe eine Fahne am Balkon gehisst
schäme mich des jämmerlichen Patriotismus
und meiner Apathie
denke an die Jungen
wer nachts im Wald pfeift
hat Angst.

 

Wenn ich nur beten könnte …

 

Grisha Alroi-Arloser, Tel Aviv 2023

 

Grisha Alroi-Arloser (* 1957 in Sibirien) wuchs als Sohn jüdischer Eltern in Köln auf und lebt seit 1978 in Israel. Er war als israelischer Diplomat in Bonn tätig und leitete bis vor Kurzem, bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand, eine israelisch-deutsche Interessenvertretung der Wirtschaft.

 

Mit Dank an den Autor für die Abdruck-Erlaubnis und an Sr. Gabriela Zinkl, Jerusalem, für die Vermittlung.